Nemeabach 394


Der letzte große Sieg des Bürgerheeres

Die Kampagne eines spartanischen Heeres in Kleinasien nutzend und wohl nicht ganz unempfänglich für die finanziellen Offerten der Perser, die sich durch König Agesilaos‘ bunte Truppe aus Söldnern und Neodamodei in Verlegenheit gebracht sahen, bildeten zahlreiche starke Poleis, darunter Athen, Argos und Theben/Boiotien, eine Allianz gegen Sparta. Die Thebaner und Argiver eroberten im Handstreich die peloponnesische Kolonie Herakleia Trachinia in Malis. Damit wurde der Konflikt für Sparta offensichtlich und folgerichtig Agesilaos aus Kleinasien zurückbefohlen.

Noch bevor er am Schauplatz erscheinen konnte, sollte der Bund der Gegner zur Raison gebracht werden und ein Heer unter Aristodemos, dem Vormund von König Agesipolis (Agiade) marschierte von Sparta nach Norden. Der Bund dagegen wollte die Zeit nutzen, bis der berühmte spartanische Heerführer wieder zu Hause sein konnte, und ging mit seinem Heer in Richtung des Territoriums der lakedaimonischen Verbündeten vor.

Zwischen Sikyon und Korinth trafen die Heere, das spartanische von Westen kommend, das gegnerische von Osten, aufeinander. Xenophon gibt uns einige detaillierte Hinweise auf die Truppen und ihre Aufstellung, anderes lässt sich mit einiger Plausibilität rekonstruieren.

Das spartanische Heer umfasste von rechts nach links ungefähr 6000 lakedaimonische Hopliten, die Tegeaten (um die 2400?), 3000 Mann Verbündete aus der Argolis (Epidauros, Troizen, Hermione, Halieis), die Mantineier (um 3000?), dann 3000 Hopliten aus Elis und die Achaier, darunter 1500 aus Sikyon und weitere Kontingente, v.a. das aus Pellene. Die Schlachtreihe zählte an die 18000 Hopliten. Dazu kamen an die 600 Mann lakedaimonische Kavallerie, 300 kretische Bogenschützen und 400 eleische Schleuderer. Die Frontlinie war anscheinend wegen der geringeren Tiefenstaffelung von 12 Mann breiter als die des Gegners, obwohl der Gegner mehr Hopliten aufgeboten hatte.

Von rechts nach links standen dort 5000 Mann aus Boiotien (neben Theben wohl v.a. aus Thespiai), 3000 Korinther, an die 7000 aus Argos, dann 3000 Euboier und außen 6000 Athener. Dazu kamen 1550 Mann Kavallerie und eine nicht rekonstruierbare Zahl von Leichtbewaffneten. Die Hopliten standen in der Tiefe von 16 Mann, nur die Boioter waren tiefer gestaffelt, vielleicht 24. Die Front maß eine Breite von ungefähr 1400 Schilden.

Beim Marsch der Heere aufeinander zu bewegten sich beide offensichtlich stärker nach rechts, als es die übliche Tendenz war. Beide Seiten wollten den Gegner aktiv umfassen. Kurz vor dem Zusammenstoß ließ Aristodemos den überlappenden Teil der Spartaner nach vorne schwenken, bis er rechtwinkelig zur eigenen Reihe stand – ein überraschendes und im Gefecht kaum zu bewerkstelligendes Manöver, das ein langsames Vorgehen der Schlachtreihe und ein eiliges und gleichmäßiges Schwenken des Flügels bedingt. Die so umfassten Athener (evtl. auch die Euboier) flohen noch vor dem Zusammenstoß, vermutlich früh genug, dass das geordnet geschehen konnte. Derweil trafen die Schlachtreihen aufeinander. Alle Verbündeten der Lakedaimonier außer den Achaiern ganz links wichen teilweise fluchtartig zurück. Die ihnen gegenüberstehenden Truppen lockerten bei der Verfolgung ihre Formation. Das Bürgerheer rollte dann die gegnerische Phalanx von der Seite her auf und beendete die Schlacht mit einem großen Sieg.

Nach Xenophon hatten sie selbst fast keine Verluste, ihre Verbündeten allerdings „nicht wenige“ und die Gegner „sehr viele“. Diodorus schätzt mit großem zeitlichem Abstand 1100 vs. 2800 gefallene Hopliten. Aristodemos nahm anscheinend den Verlust am linken Flügel durchaus in Kauf, um mit einem anderen Phalangen kaum möglichen Manöver die Schlacht zu entscheinen. Damals wussten die Heere einen Durchbruch im Regelfall taktisch nicht zu nutzen, sondern sie lösten ihre Formation auf, um fliehende Gegner einzuholen. Das auszunutzen, wirkt unglaublich abgeklärt. Da – wie sich zeigte – dabei „nicht wenige“ Verluste der Verbündeten einzukalkulieren waren, wird das kaum zur freiwilligen Loyalität der Verbündeten beigetragen haben.

Das Manöver am Nemeabach mit verstärkter Rechtsverschiebung und Einschwenken des dann überlappenden Flügels ist möglicherweise Ergebnis einer Auswertung der Ereignisse von Mantineia über 20 Jahre vorher. Das Umfassungsmanöver, das dort schließlich den Sieg rettete, war wohl nicht vorher geplant, sondern aus der Notsituation angeordnet. Nun wurde es gezielt herbeigeführt, was nur dadurch möglich war, dass die Lakedaimonier im Gegensatz zu anderen Heeren solche Manöver in Kampfsituationen zu auszuführen verstanden.

Sollte das so sein, wurde damit ein für die damalige Zeit ungewöhnlicher Schritt getan: Die Auswertung der Bewegungen in einer Schlacht mit der Schlussfolgerung, bestimmte Manöver in Zukunft wieder anzuwenden, auch wenn der Feldherr ein anderer ist. Darin ist so etwas wie eine rudimentäre Stabsarbeit zu sehen. Dass das unabhängig vom Feldherrn gelingen konnte, ist möglicherweise auf die Arbeit der „Berater“ zurückzuführen, die die spartanischen Könige auf ihren Feldzügen zu tolerieren hatten und die es ihnen einerseits ermöglichten, im Feld ohne Rücksprache mit den Polisorganen in Sparta zu agieren, sie andererseits nach dem Feldzug für ihre Handlungen zur Rechenschaft ziehen konnten. Die 30 Berater und zwei begleitenden Ephoren mussten ohnehin das Verhalten des Königs irgendwie kommunikationsfähig konservieren. Damit wurde auch die Möglichkeit nachträglicher Auswertung gegeben, was die Entwicklung von Manövern in zukünftigen Schlachten erlaubte.

Die Spartaner versuchten anscheinend bei Leuktra dasselbe Manöver wieder. Aber auch die Thebaner lernten in entsprechender Weise. Sie setzten am Nemeabach ihre vertiefte Schlachtreihe gegen ein peloponnesisches Heer ein. Auch wenn das ganze Treffen nicht zu ihren Gunsten ausging, scheinen sie doch die Vorteile dieser Maßnahme gesehen zu haben, die sie gegen die Athener schon 424 bei Delion erfolgreich eingesetzt hatten, und haben sie in den kommenden Jahren ausgebaut, bis sie bei Leuktra damit die Hegemonie der Spartaner brachen und selbst übernahmen.